* 18 *
Jenna war auf dem Weg zurück in den Palast.Die Regenbö, die Marcia und Septimus auf der Zaubererallee erwischt hatte, überraschte auch sie. Die peitschenden Tropfen brannten ihr in den Augen, und der Wind ließ den Mantel um ihre Waden schlackern, als versuche er, ihr ein Bein zu stellen. Sie zog den Kopf ein und rannte los, mit der einen Hand Ullr und den Mantel, mit der anderen Nickos Notizen und Snorris wertvolle Karte festhaltend. Sie lief am Palasttor vorbei schnurstracks zu der windgeschützten Gasse neben dem Palast, die in den Gemüsegarten führte. Als sie in die Gasse einbog, war sie schnell, so schnell, dass ihr, selbst wenn sie aufgepasst hätte, keine Zeit mehr geblieben wäre, der dunklen, schlaksigen Gestalt auszuweichen, die um die Ecke geschossen kam und ungebremst in sie hineinrauschte.
Von der Wucht des Zusammenpralls mit Merrin wurde Jenna nach hinten geschleudert und knallte gegen die Mauer, sodass ihr und Ullr die Luft wegblieb. Merrin schlug der Länge nach hin, rappelte sich aber gleich wieder auf wie eine langbeinige Spinne, funkelte Jenna zornig an und rannte weiter, denn er wollte auf keinen Fall zu spät kommen.
Benommen ließ Jenna Ullr unter ihrem Mantel hervorschlüpfen. Dann stand sie auf und rieb sich den Hinterkopf, an dem bereits eine Beule wuchs. Einen Augenblick lang war sie ganz verwirrt, dann blickte sie zu Boden und fragte sich, was da für merkwürdiges braunes Konfetti in der Pfütze vor ihr schwamm. Und dann begriff sie.
Von plötzlicher Übelkeit ergriffen, sank sie auf die Knie und blickte fassungslos. Nickos Notizen und, schlimmer noch, Nickos Karte waren bei dem Zusammenprall zerdrückt worden, das alte Papier gebrochen, und nun lag sie in Fetzen auf dem nassen Boden. Ihre letzte Chance, Nicko zu finden, war dahin.
Beetle schlenderte langsam an der Vorderseite des Palastes vorbei, ohne sich um den Regen zu kümmern, der durch seine Wolljacke drang und auch den Weg in seine Stiefel fand. Seine Erregung über die merkwürdigen Ereignisse der letzten Stunde hatte sich im strömenden Regen gelegt, und in banger Sorge dachte er daran, was ihn wohl im Manuskriptorium erwartete. Ob Marcia Jillie Djinn bereits einen Besuch abgestattet und berichtet hatte, dass er bei dem Alchimisten gewesen war? Außerdem beschäftigte ihn die Frage, wie er wieder zu seinem Schlitten kommen sollte. Im Unterschied zum Schlitten des Zaubererturms reagierte seiner nicht auf Pfiffe. Ja, er war nicht einmal mit einer Pfeife ausgestattet. Noch schlimmer war, dass sich der Schlitten gerne selbstständig machte und er keine Ahnung hatte, ob er ihn angebunden hatte. Er hatte sich so darauf gefreut, Jenna zu sehen, dass er seine Pflichten vergessen hatte. Wie sollte er sich dafür rechtfertigen? Er machte sich schwere Vorwürfe und schwor sich, Jennas wegen nie wieder seine Arbeit zu vernachlässigen – und in diesem Augenblick sah er sie in der Palastgasse in einer Pfütze knien.
»Prinzessin Jenna?«, drängte Beetles besorgte Stimme in Jennas Verzweiflung. »Ist... ist alles in Ordnung?«
Jenna schüttelte den Kopf, schaute aber nicht auf. In dem Gefühl, etwas zu tun, was sich für ihn eigentlich nicht gehörte und was nur jemand tun würde, der sie gut kannte, kniete sich Beetle neben ihr hin. »Kann ich helfen?«, fragte er.
Jenna sah ihn an. Beetle war sich nicht sicher, ob es Regentropfen oder Tränen waren, die ihr übers Gesicht liefen. Es hätte beides sein können. Jenna deutete auf einen Haufen Papierschnitzel, die in der Pfütze schwammen, und sagte zornig: »Ich habe alles verdorben. Alles ist meine Schuld. Jetzt finden wir sie nie.«
Beetle kam ein schrecklicher Verdacht. »Oh nein«, murmelte er und blickte entsetzt auf die Papierschnitzel. »Das ist doch nicht...«
Jenna nickte traurig.
Versuchsweise hob er einen aufgeweichten Fetzen auf und legte ihn sich auf die flache Hand. »Vielleicht...«, sagte er langsam und überlegte scharf.
»Was?«
»Wenn wir alle einsammeln, lässt sich vielleicht etwas machen.«
»Wirklich?« Leise Hoffnung schwang in ihrer Stimme.
»Ich ... ich möchte nicht zu viel versprechen, aber im Manuskriptorium versteht man sich auf solche Dinge. Einen Versuch wäre es jedenfalls wert.« Damit zog Beetle ein Päckchen aus der Tasche und faltete es auseinander, bis er ein großes viereckiges Tuch aus feiner Seide auf seinem Knie balancierte. Er leckte sich Zeigefinger und Daumen und rieb am oberen Saum der Seide, bis er sich teilte. Das Seidentuch entpuppte sich als Tragebeutel mit vielen Innenfächern. »Ich habe immer so ein Ding bei mir«, erklärte er. »Man weiß nie, ob man etwas findet, das man hineintun möchte.«
»Donnerwetter!«, staunte Jenna, die das Gefühl hatte, dass sie selbst nie etwas Nützliches mit sich herumtrug.
Die folgenden zehn Minuten brachten sie damit zu, im strömenden Regen – und unter dem kläglichen Maunzen eines triefnassen roten Katers – die empfindlichen Schnitzel aus fünfhundert Jahre altem Papier aufzulesen und vorsichtig in Beetles Beutel zu legen. Als sie überzeugt waren, dass sie auch das letzte Fitzelchen gefunden hatten, rollte Beetle die Seide behutsam zusammen und sagte: »Möchten Sie sie unter Ihrem Mantel tragen, Prinzessin Jenna? Ich glaube, da bleiben sie trockener.«
»Einfach nur Jenna, Beetle. Bitte.« Jenna lächelte und verstaute die Seidenrolle unter ihrem Mantel.
»Äh ... soll ich vielleicht... ?« Beetle deutete auf Ullr, der brav neben der Pfütze hockte und schlotterte.
»Oh ja, bitte«, antwortete Jenna.
Beetle hob die durchnässte Katze hoch und schob sie unter seine Jacke, dann machten sie sich gemeinsam auf zum Manuskriptorium. Auf dem Weg durch die Zaubererallee kam Beetle der Gedanke in den Sinn, dass er, wäre da nicht die nagende Sorge gewesen, dass das Manuskriptorium möglicherweise Nickos und Snorris Papiere nicht wieder zusammensetzen konnte, in diesem Augenblick rundum und wunschlos glücklich gewesen wäre.
Dies änderte sich gründlich, als er die Tür zum Schreibkontor aufstieß und Jillie Djinn und Merrin Meredith erblickte, die gerade im Begriff waren, nach hinten ins Manuskriptorium zu gehen. Beim Klingeln der Türglocke und dem Klicken des Kundenzählers drehten sich beide um.
»Wo sind Sie gewesen?«, verlangte Miss Djinn zu wissen.
»Ich ... ich habe eine Luke inspiziert. Marcia ... ich meine, Madam Overstrand hat mich beauftragt...«
»Madam Overstrand ist nicht Ihre Vorgesetzte, Mr. Beetle. Ihre Vorgesetzte bin ich. Ich musste einen Schreiber nach vorn beordern, um für Sie einzuspringen. Damit standen nur noch neunzehn für den Tagesdienst zur Verfügung. Neunzehn sind zu wenig. Ein Glück für Sie, dass ich einen vielversprechenden Anwärter auf den freien Posten habe.«
Beetle stockte der Atem.
Merrin grinste.
»Und was, bitte, fällt Ihnen ein«, fuhr Jillie Djinn fort, »einfach meine Anzeige abzureißen, zusammenzuknüllen und in den Papierkorb zu werfen? Sie werden wohl größenwahnsinnig. Wenn Sie so weitermachen, werde ich mir überlegen müssen, ob dieser junge Mann für Ihren Posten nicht besser geeignet ist.«
Beetle erbleichte.
»Entschuldigen Sie, Miss Djinn«, sagte Jenna und trat aus dem Schatten eines wackligen Bücherstapels neben der Tür.
Jillie Djinn blickte überrascht. Vor lauter Ärger über Beetle hatte sie Jenna gar nicht bemerkt. Tatsächlich fand es die Obergeheimschreiberin im Allgemeinen verwirrend, sich mit mehr als zwei Personen gleichzeitig zu befassen. Sie deutete eine Verbeugung an und sagte ein wenig unpassend: »Womit kann ich dienen, Prinzessin Jenna?«
Jenna schlug ihren besten Prinzessinnenton an. Sie selbst fand, dass er ein wenig aufgeblasen wirkte, aber ihr war aufgefallen, dass sie damit gewöhnlich erreichte, was sie wollte. »Mr. Beetle war in einer wichtigen Angelegenheit des Palastes tätig. Wir sind hier, um Ihnen persönlich unseren Dank dafür auszusprechen, dass Sie uns gestattet haben, von seinem Fachwissen zu profitieren. Wir bitten um Nachsicht, falls wir ihn zu lange aufgehalten haben sollten. Der Fehler liegt ganz auf unserer Seite.«
Jillie Djinn blickte verdutzt. »Mir war nichts von einem Auftrag des Palastes für heute Vormittag bekannt. Im Terminkalender ist nichts eingetragen.«
»Streng vertraulich«, sagte Jenna. »Wie Ihnen sicherlich bekannt ist.«
Jillie Djinn war nichts dergleichen bekannt, doch vor ihrem möglichen neuen Mitarbeiter wollte sie sich keine Blöße geben. »Ach ja, richtig«, erwiderte sie. »Streng vertraulich. Natürlich. Ich freue mich, dass wir zu Diensten sein konnten, Prinzessin Jenna. Aber wenn Sie uns jetzt entschuldigen würden. Wir sind mit unserem Vorstellungsgespräch schon zwei und eine dreiviertel Minute im Verzug.« Damit führte sie Merrin ins Halbdunkel des Manuskriptoriums, machte noch einmal eine kleine Verbeugung in Jennas Richtung und war verschwunden.
Beetle zog Ullr unter der Jacke hervor und setzte ihn sanft auf den Tisch.
»Puhl«, stöhnte er. »Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll, Prin... wie ich dir danken soll, Jenna. Wirklich.«
»Ich wüsste schon etwas«, erwiderte Jenna lächelnd und reichte ihm den zusammengerollten Seidenbeutel.
»Ja«, sagte Beetle und betrachtete den Beutel. »Ich auch.«